Sehr geehrter Herr Minister Neumann, Frau Ständige Delegierte Deutschlands bei der UNESCO, liebe Martina Nibbeling-Wriessnig, Herr Deutscher Botschafter in Frankreich, lieber Reinhard Schäfers, Frau Präsidentin von Arte France Paris, liebe Véronique Cayla, Sehr geehrter Herr Direktor der Villa Gillet, sehr geehrter Guy Walter, Frau Präsidentin der Stiftung Genshagen, sehr geehrte Christel Hartmann-Fritsch, sehr geehrte Stéphane Hessel, sehr geehrte Jurymitglieder, Sehr geehrte Céline Minard, sehr geehrte Thomas Melle, Freunde,

Der Schiffer in seinem kleinen Boot
Wird von einem verrückten Schmerz ergriffen,
Er sieht die Riffe nicht mehr,
Er schaut immer nach oben.

Ich glaube, die Wellen haben endlich
Verschlang den Schiffer und sein Boot
Und das ist die Lorelei mit ihrem verhängnisvollen Gesang,
Wer hat das alles getan.»

Diese Verse, die von so vielen deutschen Schulkindern gelernt wurden, stammen von Heinrich Heine, dem wohl Pariser Schriftsteller. In einer Zeit, in der die Europäische Union manchmal ins Wanken zu geraten scheint, kann man zumindest hoffen, dass sie nicht das Schicksal des Schiffes von Heine erleiden wird.

Dies ist wieder einmal eine Gelegenheit, uns daran zu erinnern, daß die intellektuellen und kulturellen Ströme die Materie unseres gemeinsamen Schiffes sind, und daß das Europa der Kultur, weit entfernt von den Beschwörungen, immer den politischen Voluntarismen vorausgegangen ist. Unsere deutsch-französische kulturelle Zusammenarbeit arbeitet ihrerseits daran, die Sichtbarkeit dieses Austauschs zu fördern, ihn auch anzuregen, um uns zu helfen, das zu definieren und zu bewahren, was Jacques Derrida in Liber, der europäischen Zeitschrift der Bücher, den «anderen Kurs» genannt hatte.

Wie nah ist es? In Europa ist etwas Einzigartiges im Gange, in dem, was noch Europa heißt, auch wenn man nicht mehr genau weiß, was so heißt. (...) Er lehnt sowohl die Analogie als auch die Antizipation ab, was auf diese Weise beispiellos erscheint. Ängstliche Erfahrung der Unmittelbarkeit, durchquert von zwei widersprüchlichen Gewissheiten: das sehr alte Subjekt der kulturellen Identität im Allgemeinen (vor dem Krieg hätte man vielleicht von der «geistigen» Identität gesprochen)Das sehr alte Thema der europäischen Identität hat zwar die ehrwürdige Antike eines erschöpften Themas. Aber dieses «Thema» hat vielleicht einen leeren Körper. Würde sein Name nicht etwas verbergen, das noch kein Gesicht hat? »

Diese Zeilen wurden vor 20 Jahren geschrieben, einige Monate nach dem Fall der Berliner Mauer. Sie sind aktueller denn je, und dieses «Etwas, das noch kein Gesicht hat» tragen unsere zeitgenössischen Literaturen gerade dazu bei, es zu formen.

Im zweiten Jahr trägt der Franz-Hessel-Preis für zeitgenössische Literatur dazu bei, den bereits reichen intellektuellen und literarischen Austausch zwischen den beiden Ufern des Rheins zu vertiefen, indem er ihnen neue Blicke verleiht und die Übersetzung fördert, zwischen unseren beiden Sprachen, unserer zeitgenössischen literarischen Schöpfung. Wie Sie wissen, besteht das Ziel dieses Preises darin, einen deutschen Autor in Frankreich und einen französischen Autor in Deutschland bekannt zu machen. Durch die Förderung der Übersetzung der preisgekrönten Bücher der beiden Preisträger für eine Veröffentlichung im anderen Land wollen unsere beiden Ministerien dazu beitragen, den Werken, die am Aufbau unserer gemeinsamen literarischen und kulturellen Landschaft beteiligt sind, eine bessere redaktionelle Sichtbarkeit zu verleihen, Diese Werke, die die Grenzen unserer Existenzen gegenüber der Moderne erforschen, wie es Franz Hessel seinerzeit meisterhaft zwischen Paris und Berlin getan hatte.

Ich begrüße die Partnerschaft zwischen den beiden großen Kulturlabors Villa Gillet und der Genshagen-Stiftung, die den beiden Preisträgern ein gemeinsames Zuhause bieten und ihnen ein Programm von Begegnungen und öffentlichen Debatten anbieten wird.

Ganz besonders möchte ich die Jurymitglieder für ihr Engagement und ihren Anspruch loben: Nils Ahl, Francesca Isidori, Christine de Mazières, Augustin Trapenard, Guy Walter, Hatice Akyün, Thorsten Dönges, Hans-Peter Kunisch und Ulrike Vedder.

Nach Maylis de Kerangal und Kathrin Röggla im vergangenen Jahr in Freiburg im Breisgau sind es in diesem Jahr Céline Minard für So Long, Luise für Denoël und Thomas Melle für Sickster, die bei Rowohlt erschienen sind.

Liebe Céline Minard, nachdem Sie Philosophie studiert und den Beruf des Buchhändlers ausgeübt haben, widmen Sie sich dem Schreiben von Romanen und Erzählungen, wo der Einfallsreichtum Ihrer Prosa durch eine Hybridisierung von Registern und Sprachen gekennzeichnet ist, die das zeitgenössische Schreiben grundlegend erneuert. Sie waren 2007 Gast der Villa Medici und dieses Jahr der Villa Kujoyama. Ihr Roman Bastard Battle wurde vor drei Jahren von der Jury des Wepler-Preises - Fondation La Poste ausgezeichnet. Märchen, Phantasie, Bukolisches treffen in Ihren Werken aufeinander, und die ganze formale Freiheit findet man in Ihrem letzten Roman So Long, Luise - Liebesroman zwischen zwei Frauen in ganz Europa, Testamentliche Handschrift, die die Grenzen zwischen dem Wahren und dem Wunderbaren verwischt, auf der Suche nach einer paradiesischen Sicht der Existenz.

Lieber Thomas Melle, nach Ihrem Studium der vergleichenden Literatur und Philosophie in Tübingen, Austin (Texas) und Berlin übersetzen Sie den kalifornischen Schriftsteller William T. Vollmann und veröffentlichen mehrere Theaterstücke und eine Erzählsammlung, Raumforderung. Sickster ist Ihr erster Roman, ein virtuoses Porträt aus der Epoche, in dem sich gescheiterte Schriftsteller und «Business-Punks» eines perversen Kapitalismus treffen, verwirrte und einsame Charaktere im Nachtleben und in den Tiefen eines Berlins, das unter Vodka Red Bull durchquert wird. Mit Ihnen nimmt das Flanieren von Franz Hessel und Walter Benjamin eine ganz andere Wendung, wenn es überhaupt noch möglich ist.

Ihr beide tragt auf unsere Welten, unsere Sprachen, unsere Literaturen, unverzichtbare Blicke in unsere Zeit.

Das Wort hat nun Staatsminister Bernd Neumann.